SN.AT / Leben / Mobilität

Die Straße als Konfliktherd

Das Konfliktpotenzial im Straßenverkehr nimmt stetig zu. Verkehrspsychologin Marion Seidenberger über die Gründe für so viel Aggressivität.

Laut Umfrage schimpfen sechs von zehn Autolenkern während der Fahrt, jeder zweite drückt regelmäßig auf die Hupe.
Laut Umfrage schimpfen sechs von zehn Autolenkern während der Fahrt, jeder zweite drückt regelmäßig auf die Hupe.

Autofahrer gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger, Fußgänger gegen E-Scooter-User - die Liste potenzieller Konflikte im Straßenverkehr ist schier endlos. Je größer das Verkehrsaufkommen, desto höher ist auch das Aggressionspotenzial. Die Verkehrspsychologin des ÖAMTC, Marion Seidenberger, über mögliche Auswege aus der ewigen Gewaltspirale.

Frau Seidenberger, werden die Umgangsformen im Straßenverkehr wirklich rauer oder ist das nur eine subjektive Wahrnehmung? Marion Seidenberger: Der ÖAMTC hat zuletzt 2017 eine Umfrage zu diesem Thema durchgeführt. Dabei gaben 59 Prozent der befragten Personen an, dass die Aggression im Straßenverkehr häufiger geworden ist. Ein Drittel der Befragten nahm hingegen keine Veränderung wahr. Besonders hoch erscheint das Konfliktpotenzial in den Ballungszentren zu sein. Besonders in Wien haben 65 Prozent der Befragten angegeben, dass die Aggressionen zunehmen.

Was ärgert Autofahrer am meisten? Laut Umfrage sind die häufigsten Ärgernisse, von anderen Fahrzeugen geschnitten zu werden, Drängeln bzw. zu dichtes Auffahren sowie das unerlaubte Fahren durch die Rettungsgasse. Aber auch unaufmerksame und abgelenkte Verkehrsteilnehmer - etwa wenn während der Fahrt mit dem Smartphone oder dem Navi hantiert wird - oder auch Geschwindigkeitsbegrenzungen ohne ersichtlichen Grund sorgen für Ärger.

Welche Gründe gibt es aus psychologischer Sicht für so viel Aggression? Grundsätzlich kommt es auf die eigene Persönlichkeit an, ob man den Straßenverkehr als Konfliktherd sieht oder nicht. Ein generelles Problem besteht sicherlich darin, dass es in großen Teilen der Gesellschaft positiv bewertet wird, wenn man sich gegen andere durchsetzt. Das beginnt schon in der Schule, wo die Ellbogentaktik nicht selten sogar gefördert wird. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass viele Menschen in den Wettkampfmodus wechseln, sobald sie in ein Auto steigen. Das fängt schon beim klassischen Beschleunigungsduell an der Ampel an. Man kann sich aber auch Bestätigung holen, indem man eine Minute früher ans Ziel kommt als vom Navi vorhergesagt. Der Mensch braucht ein gewisses Aktivierungsniveau, ansonsten wird ihm schnell langweilig.

Das gilt vermutlich im gleichen Ausmaß auch für Radfahrer? Absolut! Hier kommt zudem eine zusätzliche sportliche Ebene zum Tragen, frei nach der Devise: Wenn man schon aus eigener Kraft unterwegs ist, kann man die Zeit gleich als Trainingseinheit nutzen und so schnell wie möglich ans Ziel gelangen. Die Verkehrsregeln sind dann oftmals nur noch zweitrangig.

Bild: SN/öamtc
„Sowohl Autofahrer als auch Radfahrer sehen sich im Falle eines Konflikts im Vorteil.“ Marion Seidenberger, Verkehrspsychologin des ÖAMTC

Bleiben wir beim Thema Rad. Wie erklären Sie sich den ewigen Disput zwischen Fahrradfahrern und Autolenkern? Das Grundproblem ist die Pauschalverurteilung bei schlechtem Benehmen. Anders formuliert: Negative Beispiele merkt man sich einfach viel länger. Wenn sich fünf Prozent nicht an die Regeln halten, dann geht man automatisch davon aus, dass es alle anderen auch so machen. Dazu kommt, dass vermeintliche Kleinigkeiten für andere Verkehrsteilnehmer sehr drastische Auswirkungen haben können. Der Fußgänger, der bei Rot über die Ampel geht, der Radfahrer, der vor dem Zebrastreifen nicht absteigt, oder der Autofahrer, der ohne zu schauen die Autotür öffnet - aus der eigenen Perspektive werden solche Handlungen meistens nicht als schwerwiegend wahrgenommen. Für das Gegenüber kann es aber sehr schnell sehr gefährlich werden. Erschwerend kommt dazu, dass sich sowohl Autofahrer als auch Radfahrer im Falle eines ausgetragenen Konflikts potenziell im Vorteil sehen. Während der Autofahrer hinter Blech und Glas geschützt ist, kann sich der Radfahrer flink und anonym der Situation entziehen. Bei einer direkten Konfrontation wäre die Bereitschaft zur Eskalation bei Weitem nicht so groß.

Welche Lösungen schlagen Sie im Falle eines akuten Streits vor? In der Psychologie gibt es den Grundsatz, die Ehre des Gegenübers zu wahren und nicht mit Worten argumentativ alles kaputt zu schlagen. Ich-Botschaften, die beispielsweise erklären, warum man sich gerade gefährdet gefühlt hat, können helfen. Und natürlich ist es niemals falsch, sich für ein Fehlverhalten schlicht und einfach zu entschuldigen.

Liegt das Hauptproblem bei den Menschen oder in den Umständen im Straßenverkehr? Natürlich trägt die Verkehrsinfrastruktur zu großen Teilen dazu bei. Wo es zu wenig Platz gibt, treten Konflikte weitaus häufiger auf. Die Trennung der Fahrspuren für die einzelnen Verkehrsteilnehmer, etwa besser geplante bzw. geführte Radwege, sorgen zudem auch dafür, dass die einzelnen Verkehrsteilnehmer disziplinierter agieren. Das heißt, Autofahrer fahren weniger oft auf den Fahrradstreifen, Fahrräder werden weniger oft achtlos abgestellt.

Wenn Sie persönlich einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich für weniger Streit im Straßenverkehr wünschen? Dass alle Verkehrsteilnehmer viel besser über die geltenden Verkehrsregeln Bescheid wissen. Je weniger im Straßenverkehr falsch gemacht wird, desto geringer das Aggressionspotenzial. Aus diesem Grund kann man auch nie genug in die Verkehrsausbildung der Kinder und Jugendlichen investieren. Denn Wissen gibt Schutz.