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Jaguar Land Rover-Technikchef Thomas Müller: "Das Rennsport-Know-how bringt uns voran"

Thomas Müller, der neue Technikchef bei Jaguar Land Rover, im SN-Gespräch: über den Nutzen des Formel-E-Engagements für die Serie und die elektrische Zukunft des Konzerns.

Jaguars neuer Formel-E-Bolide verzichtet auf die hintere Bremse.
Jaguars neuer Formel-E-Bolide verzichtet auf die hintere Bremse.

Der "Vater" des Zukunftsplans trat zwar kürzlich für viele überraschend ab, doch Jaguar Land Rover (JLR) wird an der "Reimagine"-Strategie von Kurzzeit-CEO Thierry Bolloré festhalten. Das bestätigt der neue Geschäftsführer für Produktentwicklung Thomas Müller, der seit April dieses Jahres für die Briten arbeitet. Der Deutsch-Brasilianer, zuvor 15 Jahre im Bereich Fahrassistenten tätig und lang im VW-Konzern beschäftigt gewesen, betont auch das Zusammenspiel zwischen den Technikern im Rennteam TCS Jaguar Racing und in der Serienentwicklung.

Jaguar Land Rover will bis 2039 komplett emissionsfrei werden

Bollorés Konzept sieht vor, dass JLR bis 2039 komplett emissionsfrei aufgestellt ist, dass bis Ende des Jahrzehnts jedes Modell eine rein elektrische Version bieten und Jaguar schon 2025 komplett elektrisch unterwegs sein wird. "Das ist unser Schlüssel für die Zukunft der beiden Marken mit Modern-Luxury-Anspruch", ergänzt Müller, der dem legendären Technikvorstand Nick Rogers nachfolgt.

Race to Road: Transfer von Know-how für die Serienmodelle von JLR

"Aus der Rennerfahrung wollen wir das Maximum für die Serie herausholen. Race to Road heißt nicht, einfach Teile beidseitig zu verwenden. Es geht um Transfer von Know-how. Die Entwicklungsingenieure von JLR arbeiten mit den Technikern des Rennteams eng zusammen, denn die sind immer dort, wo Innovation geschieht", erklärt Müller im SN-Gespräch.

"Für die nächste Generation von E-Serienmodellen ist das Prinzip der Formel E, maximale Leistung und höchste Effizienz zu kombinieren, auch unser Ziel. Wir lernen aus dem Rennsport. Dazu kommt auch die neue Partnerschaft mit Wolfspeed (Halbleiter-Hersteller aus den USA, Anm.) in der Serienproduktion, die das Rennteam schon seit 2017 pflegt", führt der 46-Jährige aus. Die Nutzung der Rennerfahrung dreht sich vor allem um den Stromumwandler (Inverter) und wie der Betrieb des E-Motors durch Softwaresteuerung optimiert werden kann.

Als weiteres Beispiel nennt Müller brake by wire. "Das heißt, das Bremspedal ist nicht hydraulisch mit der Bremse verbunden. Dabei muss aber dem Fahrer das möglichst echte Druckgefühl auf dem Pedal vermittelt werden. Was für die Serie schon schwierig ist, ist für unsere FE-Piloten Mitch Evans und Sam Bird noch diffiziler umzusetzen. Das war eine der ersten Verbindungen zwischen Sport und Serie."

Verzicht auf Hinterradbremse beim I-Type 6 auch bei Serienautos möglich

Revolutionär mutet im neuen I-Type 6 für die neunte Saison der Formel-E-WM der Verzicht auf die Hinterradbremse an, die durch die enorme Rekuperation ersetzt wird. Sowohl Rennteamchef James Barclay als auch der Cheftechniker Phil Charles sehen den Bezug zur Serie und die Möglichkeit der Vorreiterrolle durch das neue Reglement bestätigt: "Wenn wir beweisen können, wie gut das neue Bremssystem funktioniert, ist eine Verwendung in Serienautos möglich. Damit können wir wieder die Limits verschieben. Tatsächlich wurden Scheibenbremsen im Rennsport erstmals von Jaguar 1954 in Le Mans eingesetzt und wurden dann Standard in der Automobilbranche. Jetzt sind wir wieder einer der Ersten mit neuer Technologie, die massentauglich werden kann."

Für Müller ist natürlich auch die Batterie ein weiterer Schlüsselpunkt, "denn da trifft Chemie auf Physik. Und da wird es komplex. Da geht es um die optimale Betriebstemperatur, das ideale Paket. Das Thermomanagement bestimmt auch das Laden mit. Wobei die Batterie des Renn-I-Type nicht eins zu eins in ein Serienmodell verbaut werden kann. Aber das Know-how des Batteriemanagements im Rennen wird genutzt."

Rasante Entwicklung bei Sicherheits- und Assistenzsystemen

Eine der größten Herausforderungen für die Industrie neben der Reduktion von Emissionen ist die Geschwindigkeit der Fortschritte bei Sicherheits- und Assistenzsystemen. Sensoren und Software sind in rasanter Entwicklung. Müller: "Vor zehn Jahren konnte eine Kamera noch keinen Fußgänger erkennen. Heute erkennt die Kamera den Blickwinkel des Fußgängers, ob er das nahende Auto wahrnimmt oder nicht. Die Entwicklung ist ständig im Fluss. Wir können nicht sieben Jahre warten, bis der Zyklus eines Modells ausläuft und der Nachfolger kommt. Es gibt also laufend Systemupdates."

Es wird bei JLR bis 2024 drei neue Plattformen geben, die mit Modelljahr 2025 für den Kunden verfügbar sind. Der Technikchef kündigt an: "Unser Plug-in-Hybrid-System wird 2023 ein großes Update bekommen, das 113 Kilometer elektrische Reichweite ermöglicht und in der Leistung beim Beschleunigen mit dem E-Antrieb auskommt, ohne den Verbrenner zusätzlich einzusetzen." Er glaubt auch an den E-Antrieb als Zukunftslösung, auch wenn es derzeit Versorgungsengpässe durch den Krieg geben kann: "Das gesamte Paket des E-Antriebs ist faszinierend und wird die Kunden überzeugen. Die Transformation der Industrie ist eine gewaltige Herausforderung, in der wir mittendrin sind. Und die wir schaffen werden. JLR arbeitet auch an einer Lösung für Ladestationen für unsere Kunden."