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Megabyte statt Pferdestärken

Die Software entscheidet übers Geschäft. Die Digitalisierung des Automobils stellt die Hersteller vor nie da gewesene Herausforderungen. Tech-Giganten wie Google oder Apple haben die Autobranche längst als neues Ziel auserkoren.

Sprachsteuerung, Spurhalteassistent oder automatisches Einparken - was vor einigen Jahren noch wie reine Science-Fiction gewirkt hätte, ist heute bei vielen Neuwagen längst Realität. Nicht nur bei sündhaft teuren Luxusmodellen fühlt man sich bisweilen an die unglaublichen Fähigkeiten des Wunderautos K.I.T.T. aus der Fernsehserie "Knight Rider" erinnert. Von analogen Traditionalisten gern als unnötige Spielereien dargestellt, sind die digitalen Fähigkeiten eines Fahrzeugs für viele, längst nicht nur jüngere Kunden ein entscheidendes Kaufargument.

Die wahre Revolution steckt in der Digitalisierung

Bei Europas größtem Autohersteller Volkswagen sieht man in der bevorstehenden Digitalisierung sogar einen größeren Umbruch als in der laufenden Elektrifizierung des Antriebs. Dass der Löwenanteil der Pkw auf unseren Straßen bereits in wenigen Jahren mit grünem Strom angetrieben wird, steht für Volkswagen-CEO Herbert Diess längst außer Zweifel. Die wahre Revolution werde allerdings das autonom fahrende Auto, ist man in Wolfsburg mittlerweile überzeugt. Um das Unternehmen endgültig zum Digitalkonzern zu wandeln und auf Augenhöhe mit den Big-Tech-Firmen aus dem Silicon Valley zu bringen, investiert man bei VW bis 2024 allein 27 Milliarden Euro in die Digitalisierung. Sogar in die Fertigung eigener Computerchips wird man in Wolfsburg einsteigen - und gemeint sind damit nicht billige 08/15-Chips, sondern Hochleistungsprozessoren, die für die Steuerung autonomer Fahrzeuge benötigt werden. Schon bald wird kein Auto mehr ohne Hochleistungs-Steuergeräte auskommen, die in der Lage sind, mehrere Milliarden Operationen pro Sekunde zu verarbeiten, wie sie für automatisiertes Fahren, zusätzliche Datendienste und kabellose Software-Updates nötig sind. Umfasste der Softwarecode eines Autos vor zehn Jahren noch rund zehn Millionen Zeilen, wird die Software von selbstfahrenden Autos zwischen 300 und 500 Millionen Codezeilen umfassen. Zur Veranschaulichung: eine Million Zeilen Softwarecode entsprechen 18.000 gedruckten DIN A4-Seiten.

Google drängt mit Betriebssystem Android Auto auf den Markt

In den Konzernzentralen der deutschen Premiumhersteller ist längst eine ausgewachsene Kulturrevolution im Gange. Die Arroganz, mit der man noch vor wenigen Jahren auf die Fahrzeuge von US-Elektropionier Tesla herabgeblickt hat, ist längst vorbei. Die Firma von Star-Unternehmer Elon Musk ist in Wolfsburg, Stuttgart oder München längst zum Angstgegner, teilweise sogar Vorbild Nummer eins aufgestiegen. So will BMW ab 2025 mit der "Neuen Klasse" sämtliche Fahrzeugmodelle auf Elektromobilität umstellen und sie mit neuer Software und Batterietechnik ausstatten. Den Anfang machen noch in diesem Jahr das Elektro-SUV iX sowie das Elektro-Coupé i4 - beide bereits mit dem neuesten Softwaresystem "OS 8" ausgestattet. Die bisherige Speerspitze der Europäer stellt zweifellos die im April vorgestellte Elektro-Luxuslimousine Mercedes EQS dar. Dessen "Mercedes-Benz User Experience", kurz MBUX, kann per "Over the Air"-Update bis zu 50 Funktionen aktivieren. Laut Hersteller soll sich das System die persönlichen Vorlieben von bis zu sieben Fahrern merken und durch künstliche Intelligenz Features vorschlagen, die der jeweilige Lenker gerade brauchen könnte.

Doch der Konkurrenzdruck auf die traditionellen Hersteller wird weiter zunehmen. Denn auch die anderen amerikanischen Tech-Konzerne schlafen nicht. So drängt Google mit dem eigens für die Automobilindustrie entwickelten Betriebssystem Android Auto auf den Markt, das drahtlos "over the air" permanent aktualisiert wird. Aushängeschild aus europäischer Perspektive sind Volvo und dessen auf rein elektrische Fahrzeuge spezialisierte Ableger Polestar. Die Bedienung der Fahrzeuge ist - ähnlich wie bei Tesla - intuitiv und darüber hinaus vom Android-Smartphone bekannt. Über das zentrale Display im Cockpit erhält der Fahrer Zugang zum Sprachassistenten "Google Assistant", zum Kartendienst "Google Maps" und zum App-Store "Google Play". Vor allem der kostenpflichtige Download von Apps und anderen Services könnte sich spätestens dann als Milliarden-Business entpuppen, wenn die autonomen Fahrzeuge den Insassen zu viel Freizeit verhelfen, während diese die Hände in den Schoß legen und das Auto steuern lassen.

Für Raimund Wagner, Gründer des Beratungsunternehmens Carsulting mit Sitz in Henndorf bei Salzburg und Veranstalter des Internationalen Fachkongresses "Vernetzte Mobilität", kommt der tiefgreifende Mentalitätswechsel in der Automobilindustrie reichlich spät. Dennoch sei die Fokussierung auf das Thema Software für die alteingesessenen Player alternativlos - denn die Digitalisierung werde die traditionelle Wertschöpfungskette der Branche tiefgreifend verändern.

"Dass sich die Zeiten geändert haben, sieht man heute schon beim Autokauf. Wurde da früher nach PS oder der Höchstgeschwindigkeit gefragt, so sind heute Werte wie die Reichweite, die Ladedauer oder die zusätzlich vom Hersteller kostenlos angebotene Ladeinfrastruktur von Interesse", so Wagner, der vor dem Gang in die Selbstständigkeit 25 Jahre lang bei der Porsche Holding sowie eine weitere Dekade in der Autozuliefererindustrie tätig war.

Software-Entwickler flexibler und agiler als klassische Maschinenbauer

Den größten Nachteil für die traditionellen Autobauer im Duell mit Software-affinen Tech-Unternehmen sieht Raimund Wagner in der Trägheit ihrer internen Prozesse. "Als perfektes Beispiel dafür dient das Leuchtturmprojekt Trinity, mit dem Volkswagen im Bereich der Software in Führung gehen möchte. Denn der dafür veranschlagte Zeitrahmen von fünf, sechs Jahren erscheint mir wahnsinnig lang."

Die etablierten Automarken seien demnach vor allem eines: traditionelle Maschinenbauer mit typischen Produktzyklen von fünf bis acht Jahren. "Beim Zukunftsthema automobile Software geht es letztendlich aber um IT - und hier sind sechs Monate bereits eine sehr, sehr lange Zeit", so der Branchenkenner, der Technologieriesen wie Google, Apple oder auch Amazon gegenüber Volkswagen & Co. mittelfristig im Vorteil sieht. "Das Naturell von Software-Entwicklern ist von Natur aus wesentlich flexibler und agiler als das von klassischen Maschinenbauern."

Wie vor rund 30 Jahren, als man sich in Europa mit den bahnbrechenden Produktions- und Qualitätsmethoden der asiatischen Hersteller konfrontiert sah, suchen die großen Hersteller bei den Zulieferbetrieben um Unterstützung. Doch gerade das Beispiel der verspäteten Markteinführung von Volkswagens ID.3 zeigt, dass Zulieferer wie Conti, Bosch oder ZF in Sachen Digitalisierung rasch an ihre Grenzen stoßen.

Glaubt man Raimund Wagner, so haben die Autobauer noch einen entscheidenden Trumpf im Ärmel: "Wenn es den Europäern gelingt, in Hinblick auf den Datenschutz ein transparentes, überschaubares System zu bieten, dann wäre das die perfekte Differenzierung zu Google, Tesla & Co."